Der Mensch ist ein Tragling

Immer wieder kommt es vor, dass man mit einem Baby in der Trage (im Tuch steigert sich das ganze sogar noch) seltsam angesehen wird. Mal sind es nur mitleidige Blicke, die zum Ausdruck bringen, wie arm dieses kleine Wesen doch dran sein muss: eingequetscht und vollkommen bewegungsunfähig an Mama oder Papa gebunden, weil sich diese – so glaubt man – keinen Kinderwagen leisten können. Ein anderes Mal auch Kommentare ob DAS überhaupt gesund sein kann, gepaart mit Vorurteilen, die besagen, dass getragene Kinder später oder gar niemals laufen lernen, eine zu enge Bindung aufbauen und letztlich vollkommen verwöhnt sein werden.

Bei unserer ersten Tochter habe ich mich über sowas zunächst (innerlich) aufgeregt, dann argumentiert und erklärt, um letztlich mit „Ihr seid doch auch ohne den ganzen Firlefanz groß geworden und ganz gut geraten“ abgefertigt zu werden. Leider das Totschlagargument der älteren Generation. Über den Sinn und Unsinn dieser Argumentationsweise möchte ich hier allerdings nicht schreiben, denn dann würde der Beitrag sicherlich kein Ende finden.

Als Naturwissenschaftlerin halte ich mich gerne an Fakten und spätestens beim zweiten Kind reichen mir diese vollkommen aus, um gelassener mit seltsamen Blicken und Kommentaren umzugehen.

Menschenkinder sind Säugetiere (ich denke doch, dass wir uns hier alle einig sind) und eben diese haben in der Aufzucht ihrer Jungen unterschiedliche Strategien entwickelt. Sie sind im Laufe der Evolution entstanden und hängen vor allem mit der Lebensweise der Tiere in ihrer Umwelt zusammen. Der Bereich der Naturwissenschaft, der sich mit dieser Forschung beschäftigt nennt sich Verhaltensbiologie. Es geht also darum die verschiedensten Tierarten in ihrem Verhalten zu beobachten, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erforschen. Der Mensch bildet dann in Konsequenz Kategorien, um die Tiere zu ordnen.

So gibt es die Nestflüchter. Tiere, die direkt nach ihrer Geburt in der Lage sind zu Laufen, um dann mit dem Muttertier und ggf. seiner Herde mithalten zu können. Diese Tiere gönnen sich nach der Geburt nur eine kurze Ruhepause. Das Jungtier versucht so schnell wie möglich aufzustehen, letztlich auch um an die Muttermilch zu gelangen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Pferd. Das Fluchttier ist darauf angewiesen alsbald nach der Geburt laufen zu können, um seiner Mutter und der Herde zu folgen. Dieses Verhalten bzw. diese Fähigkeit sichert das Überleben des Fohlens, denn ohne die Mutter würde es Verhungern und ohne die Herde wäre es Fressfeinden gegenüber schutzlos.

Weiter werden in der Biologie die Nesthocker beschrieben. Das Muttertier bereitet vor der Geburt ein Nest (meist an einem versteckten Ort) vor, um die Jungtiere vor Feinden zu schützen. Nach der Geburt sind die Jungtiere nackt, taub und blind. Die Augenlieder und Gehörgänge werden vor der Geburt verschlossen und öffnen sich erst später. Zum Säugen legt sich die Mutter zu ihren Jungen. Danach verlässt sie jedoch das Nest, um auf Nahrungssuche zu gehen. Ihre Jungen verhalten sich bis zu ihrer Rückkehr ruhig. Da sie weder mobil, noch ihre Sinnesorgane voll ausgereift sind, sind sie Fressfeinden außerhalb des Nestes schutzlos ausgeliefert. Auch hier sichert das Verhalten der Jungtiere – hier speziell das ruhige Verhalten während der Abwesenheit des Muttertieres – ihr überleben.

Dass Menschen nicht zu den Nestflüchtern gehören, scheint einleuchtend. Kein Säugling kann kurz nach der Geburt krabbeln oder laufen und folgt seiner Mutter auf dem Weg aus dem Kreißsaal. Zu den Nesthockern könnten auf den ersten Blick Parallelen gezogen werden. Doch hier muss man ganz genau hinsehen! Ein Menschenkind kommt vielleicht nackt auf die Welt, doch insgesamt gleicht die Behaarung der des erwachsenen Menschen. Ein Baby ist außerdem weder taub noch vollkommen blind, auch wenn es zunächst nur schlecht sehen kann. Die Sinnesorgane sind sehr gut ausgebildet. Und für mich ein ganz entscheidener und auch einleuchtender Grund ist das Verhalten des Muttertieres: Eine Menschenmutter würde niemals ein Neugeborenes 5-6 Stunden unbeobachtet in einem Zimmer liegen lassen, um den Einkauf zu bewerkstelligen. Unabhängig davon, ob dieses Vorgehen die Aufsichtspflicht verletzt, bin ich der festen Überzeugung, dass eine Mutter es einfach nicht übers Herz bringen würde das Baby alleine, unbeobachtet und unversorgt zu lassen. Über die Gefühle der Katzenmutter beim Verlassen ihrer Jungen kann ich in diesem Fall nichts Genaues sagen, aber würde das Verlassen der Jungtiere ihrem Instinkt widersprechen, dann würde sie es nicht tun.

Es gibt noch einen dritten Jungentypus bei den Säugetieren, der sich von den beiden anderen unterscheidet. Ein Tragling wird nach seiner Geburt vom Mutter- oder auch Vatertier getragen. Dies geschieht aktiv (Jungtier klammert sich fest) oder passiv (Jungtier wird in einem Beutel transportiert). Die Hand- sowie die Fußhaltung der Traglinge ist anatomisch so angelegt, dass sie sich im Fell des Elterntieres festhalten können. Beispiele für solche Tiere sind der Koala, das Faultier und auch viele Primaten.

Nach dem Ausschlussprinzip müsste das Menschenkind also den Traglingen zugeordnet werden. Aber auch ein direkter Vergleich zeigt Parallelen zu den Eigenschaften und Fähigkeiten der Traglinge anderer Tierarten.
Besonders interessant ist die Stellung der Hüft-, Knie-, und Fußgelenke. In Ruhelage – also beispielsweise, wenn man ein Baby auf den Rücken legt – sind die Beine angewinkelt und angehockt (Anhock-Spreiz-Haltung). Das komplette Skelett des Säuglings ist auf diese Position ausgelegt, was man daran merkt, dass bei erzwungener Streckung nicht nur der Winkel der Hüfte verändert wird, sondern sogar die Wirbelsäule ins Hohlkreuz gedrückt wird. Die Anhock-Spreiz-Haltung ist die Haltung, die ein Säugetier zum Tragling macht, denn nur durch diese Körperhaltung wird das Tragen überhaupt erst möglich. Sie ermöglicht, dass der Tragling aktiv am Trageprozess beteiligt ist, sich bei Bewegung ausbalancieren kann und durch Stellung der Arme und Füße im Fell des Muttertieres festhalten kann. Und genau an dieser Stelle müssen wir ehrlicherweise auch ein paar Abstriche machen, denn die Evolution des Menschen hat auch zu anatomischen Veränderungen des Menschenbabys geführt. Der Greifreflex, der auch bei unseren Babys zu erkennen ist, ist im Vergleich zu dem der Menschenaffen von der Greifkraft vermindert. Bei der Mutter fehlt außerdem ein Fell zum Festkrallen und auch der aufrechte Gang des Menschen erschwert zusätzlich das Festhalten des Säuglings bei der Mutter. Ein vollkommen selbstständiges aktives Anklammern ist dem Menschenbaby also nicht (mehr) möglich, wenn auch die wichtigsten Grundvoraussetzungen gegeben sind.

Um das Baby am Körper der Mutter oder des Vaters zu tragen, bedarf es etwas Unterstützung. Ganz klassisch kann man sein Baby auf die Hüfte setzten und mit dem Arm stützen. Wir können uns als Eltern aber auch ein Tragetuch oder eine Tragehilfe zu Nutze machen, um unseren „halb-aktiven“ Tragling zu unterstützen. Beim Tragen sprechen wir zwar oft von „einbinden“, sollten uns aber ins Gedächtnis rufen, dass wir durch Tuch oder Trage nur unsere evolutionsbedingten körperlichen Veränderungen kompensieren. Auch im Tragetuch nimmt das Baby aktiv am Trageprozess teil. Der Mensch – wollen wir ihn also in eine der drei Kategorien einordnen – gehört zu den Traglingen.

In dem Wissen, dass wir als Trageeltern eben alles genauso machen, wie es die Natur vorgesehen hat, können wir auch den kritischen Blicken und Kommentaren stand halten. Wir können uns sicher sein, dass das Tragen unseren Kindern nicht schadet, denn ihr Körper ist anatomisch darauf ausgerichtet getragen zu werden. Wir wissen, dass das Tragen keine Modeerscheinung, sondern Teil unserer Evolutionsgeschichte ist. Auch ein Blick in die Kulturen der Welt gibt uns Recht, denn hier ist das Tragen nicht in Vergessenheit geraten, sondern war und ist schon immer Teil der Eltern-Kind-Beziehung.

Die Zufriedenheit und das Wohlgefühl unserer Babys gibt uns letztlich Recht und genau darauf kommt es im Endeffekt an.

Quelle

Hassenstein, B., Kirkilionis, E. (1992) Der menschliche Säugling – Nesthocker, Nestflüchter oder Tragling? Wissenschaft und Fortschritt. Zeitschrift für interdisziplinäres Denken 42 (1), 24-28
https://www.verhaltensbiologie.com/publizieren/fachartikel/PDF/T1.pdf